Die Motte

Eine Motte flattert unter der Decke entlang. Vorbei am schweren, braunen Vorhang. Vorbei an der hohen Stehlampe mit dem großen Stoffschirm. Sie setzt sich ganz oben auf die Kante eines Bücherregals. Die Motte sieht nicht gut. Das ist von Natur aus so. Sie sieht den Lesesaal nicht scharf, in dem sie sich befindet. Sie kann die Titel der Druckerzeugnisse nicht lesen. Sie erkennt die niedrigen Café-Tische nicht und die Gitterstühle, an denen ein Schafs-Fell als Kissenersatz befestigt ist. Sie weiß nicht, ob das Fell ein Imitat ist oder wirklich von einem Schaf stammt. 

Das weiß die Frau auch nicht, die darauf Platz genommen hat. Sie nimmt an, dass es nicht echt ist. Das Hotel ist modern. Es gibt vegane Milch. Elektronische Fahrstuhl-Rhythmen jazzen aus den Deckenlautsprechern. Im Regal stehen diverse Magazine und Abhandlungen über Kunst. Die Kunst. Das Kunstmagazin. Eine Dokumentation über die Beatles. Ein Bildband von Audrey. Gesammelte Werke von Ian Schrager. Gartendesign für Innenhöfe. Auf dem Cover natürlich was mit Efeu.

Oben auf dem Regal sitzt ein Insekt. Die Frau erkennt es nicht richtig. Eine Mücke vielleicht. Musste eine sehr große sein. Eine fette Fliege. Oder eine Motte. Eine Motte wird es sein. So eine, die kleinen Löcher in der Kleidung frisst. Oder in Polsterungen. Die Frau schaut zur Samtcouch neben sich. Ein Sahnefleck. Ein Popel. Irgendwas Geschmiertes. Einige Fussel. Haare. Kurze. Lange. Und kein Loch breit und weit. Kein Beweis für die Kleidermotte. Also dann eine Lebensmittelmotte. Zoologisch gehören die auch zu den Schmetterlingen, denkt die Frau. Schmetterlinge sind schön. Motten sind auch schön, selbst wenn sie etwas abschreckend aussehen. In diesem Moment fliegt der Falter weiter. Die Frau faltet das Buch „Die heitere Kunst der Rebellion“ zusammen und legte ihre Hände auf der geschlossenen Graphic Novel ab. Dann schaut sie ihren Mann an,

„Du Holger“, beginnt sie: „Ich glaube, ich werde dich verlassen, sobald die Kinder aus dem Haus sind.“ Holger sieht auf und kneift die Augen zusammen. „What?“ Sie schürzt die Lippen. „Ja. Ich habe es soeben entschieden. Als Konsequenz einer Selbstbeobachtung.“

„Was meinst du?“ er ist jetzt ernsthaft irritiert. „Ich habe gerade diese Motte beobachtet“, zeigt sie nach oben zur Kante des Regals, wo nun keine Motte mehr sitzt. Holger schaut auch hoch. „Ha?“. „Die ist gerade weggeflogen.“ „Und?“, schießt Holger zurück. „Ich habe die Motte, die da gerade noch saß, beobachtet und mich furchtbar gelangweilt.“ Sie dehnt die Sprechpause bewusst etwas in die Länge. „Vorher habe ich das Buch hier von Danielle de Picciotto überflogen. Sie schreibt im Vorwort davon, dass es wichtig sei, immer wieder zurückzuschauen und zu überprüfen, ob man noch auf dem richtigen Weg ist. Die furchtbare Langeweile, in der wir uns hier gemeinsam gerade befinden, bringt mich zu der Schlussfolgerung, dass die Antwort darauf NEIN ist. Von meiner Seite aus.“

„Ok“, antwortete Holger, der angestrengt zugehört hatte. Während ihrer Monologs hatte er die Motte entdeckt. Er war langsam aufgestanden und hatte sich ihr vorsichtig genähert. „Ok“, sagte er noch einmal und schlug mit der flachen Hand zu. Er zog die Hand weg und die Motte klatschte zu Boden. „War das das Problem?“, fragte er. Seine Frau war weg.

 

 

Dir hat diese Geschichte gefallen?
Du willst mehr davon lesen?

Das geht!
In meinem Buch „Die Gedanken sind feig“ findest du 19 weitere Kurzgeschichten.