Der Cappuccino

„Ich nenn‘ Ihnen mal den Preis für den Cappuccino. Nicht, dass Sie sich nachher erschrecken. 6 Euro und 55 Cent.“

Die Kellnerin sieht dir an, dass du arm bist. Sie sieht dir an, dass irgendwas nicht passt. Es könnte die Kleidung sein. Deine Kleidung sieht möglicherweise etwas studentisch aus oder aber einfach nur unpassend für so einen Touristen-The-Best-Place-To-Be-Laden. Das Café, in dem du Platz genommen hast, besticht mit bester Lage. Direkt beim Brandenburger Tor Potsdam. Sightseeing ohne Fernglas. Man kann das Tor fast anfassen, so nah ist es. Ein Platz in der Sonne. Oder ein Platz unter der Regenwolke. Das Wetter dreht sich schnell diesen Sommer.

Du sitzt da in deiner kurzen Hose, die leichte Wetterfunktionsjacke übergeworfen und bestellst diesen sehr teuren Cappuccino und zuckst nicht einmal mit der Wimper. Sechs Eurodollar 55 Cents. Das ist doch mehr als du gedacht hättest, als du bestellt hast, ohne die Karte anzuschauen. Also bitte, sei doch wenigstens ein klein bisschen geschockt oder schlucke auffällig. Oder fass’ dir doch öfter mal unsicher ans Ohr. Zeig doch irgendeine Regung, dass dir dieser absurde Preis im Portemonnaie wehtut. Dass du den nicht einfach so von deinem Bafög bezahlst.

Die Tischplatte vor dir ist aus dunklem Marmor. Du sitzt direkt am Rand zur Fußgängerzone. Die Menschen strömen vorbei. Tschechen. Niederländer. Japaner. Brandenburger. Alle tragen Sonnenbrillen. Alle führen Regenschirme mit sich.

Die Bedienung kommt und stellt den Cappuccino vor dich auf die nasse Marmorplatte. “Haben Sie noch etwas, um den Tisch trocken zu legen?” Du schaust der Bedienung sachlich in die Augen. “Natürlich, sofort.” Ihre Antwort mechanisch, aber voller Freundlichkeit. Du kannst nicht deuten, ob es echte Freundlichkeit ist. Es gehört zum Beruf einer guten Bedienung hier in Potsdam. Manchmal sind es 100 Gäste am Tag. Über Jahrzehnte. Die Grenze zwischen echt und unecht liegt irgendwo in der Vergangenheit begraben. Sie kommt mit einem Lappen wieder. Du spürst, wie ihre Mikroblicke dich abtasten. Dein Haar, deine Haut, deine Hände, dein Mobiltelefon. Die Blicke versuchen immer noch herauszufinden, ob du es wert bist, diesen Cappuccino zu bestellen. Gewissenhaftes Wischen währenddessen. “Das genügt”, sagst du. Sie macht eine kleine Verbeugung. Es könnte aber auch nur aus Versehen gewesen sein. Ein Reflex. Sie nimmt den Lappen und verschwindet zwischen den anderen Tischen. Hoffentlich rennt die nachher nicht weg, ohne zu bezahlen. Du kannst ihre Gedanken, die noch in der Luft liegen, riechen. Nachher wenn wieder ein Regenschauer kommt, dann könntest du dich einfach auf und davon machen. Es ist naheliegend. Leute wie du machen sich doch gern aus dem Staub. Weil sie eigentlich doch erschrocken sind, von den Preisen. Weil sie es eigentlich doch nicht wahrhaben wollen, was dieses luxuriöse Marmor-Leben kostet. Weil die Mark doch nicht so locker sitzt.

“Hallo kleiner Vogel.” Ein kleiner Junge flitzt einem Spatzen hinterher. Besser den Spatz in der Hand, als die Möve auf dem Dach, denkst du. Aber dann wird dir bewusst, dass der Spruch eigentlich doch ganz anders geht. Der Himmel zieht sich plötzlich zu, es beginnt zu stürmen. Nieseln setzt ein. Du stehst auf und gehst. Zur Bedienung. Und zahlst.

 

 

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