Wenn dann auch sie sich vergisst

 

Gudrun E. sitzt am Küchentisch mit ihrem demenzkranken Mann Wolfgang. Gedankenverloren schmiert sie ihm eine dicke Schnitte Pumpernickel mit Leberwurst. Das war sein Leibgericht. Ob er das noch weiß fragt sie sich. Es schmeckt ihm jedenfalls. Jeden Tag aufs neue. Sie kauft für ihn schon gar nichts anderes mehr ein. Ist auch so genug zu tragen. Und sie ist ganz allein mit ihm. Ihre Kinder scheren sich nicht. Und auch die Enkelkinder zelebrieren die Kontaktlosigkeit. Es ist ein furchtbares Schicksal, findet sie. Den Mann, den sie vielleicht mal geliebt hat, gibt es nicht mehr. Und wenn doch, dann nur schemenhaft, flüchtig, nur wie eine Ahnung, nichts an dem man sich festhalten kann. Nichts hat Bestand und alles kann im nächsten Moment wieder vergessen sein.

In der Küche ist eine spezielle Vorrichtung am Herd angebracht. Sie soll verhindern, dass Wolfgang die Wohnung in Brand setzt. Installiert hat das so eine Firma aus dem Hamburger Umland. Haben sich eine goldene Nase verdient für die paar Handgriffe. Gudrun ist sich noch bewusst, dass die Preise viel zu hoch sind, die man ihnen abverlangt. Aber sie versteht das Internet nicht und ein Telefonbuch durchzuwälzen ist viel zu anstrengend. Dann zahlt man halt drauf. Und die anderen machen den Reibach. Auch sonst sind alle gefährlichen Gegenstände gut verstaut. „Messer, Gabel, Schere, Licht sind für Demenzkranke nicht“, hat die Beratungstante vom Pflegedienst damals gesagt. Was für ein dummes Gelaber. Aber ist ja oft so denkt sie, da wo der Humor am besten und ausgefallensten sein sollte, in der dunkelsten Stunde, da ist er pomadig und billig.

Die Leute vom Pflegedienst kommen zweimal die Woche. Sie waschen Wolfgang, bringen ihm Tabletten und ordnen seine Sachen. Auch da wird gereibacht. Gudrun spürt das. Die Pflegekräfte sind zwar nicht besonders gut bezahlt, dafür aber die Leiter und Besitzer dieser Firmen. Ahnungslosigkeit kostet. Und Gudrun würde gern mal wieder eine Kreuzfahrt machen. Sonne, Pazifik und vielleicht lernt sie einen anderen Mann kennen, einen der noch nicht Matsch in der Birne ist. Sie hasst ihre Gedanken. Aber sie kommen ihr hin und wieder. Sie hat es sich schon anders vorgestellt. Knapp 7 Jahre ist sie erst Seniorin. Das kleine Haus sollte ihr Paradies werden. Mit den Enkeln spielen. Immer Besuch haben. Viel lesen. Herrlich kochen, Wein verkosten. Den Garten pflegen. Ab und zu in den Urlaub. Das hatte sie sich mal vorgestellt. Mit 63. Dann kam die Rente. Und es war schön die ersten zwei Jahre. Dann wurde der Sack krank. Ging nichts mehr. Aus der altersbedingten Vergesslichkeit wurde eine deftige Demenz. Mit allem Pipapo. Vergessen, verletzen, verlieren. Die drei großen Vs dieser Volkskrankheit. Dann kam die Isolation. Die Trauer. Einsamkeit.

Jetzt sitzt sie also und denkt mal wieder über das alles nach. Sie ist nicht hasserfüllt. Jedoch verbittert. Und über allem die Frage: Warum wir? So lang durchgehalten. Geschuftet, entbehrt, verschoben. Um dann endlich den Traum zu leben. Wenns doch nur enden würde bei ihm. Wenn der Körper nachziehen würde. Scham überkommt sie wie ein kalter Schauer. Aber es war längst nicht mehr die Scham, die sie am Anfang gespürt hatte, vor einem halben Jahr, als abzusehen war, dass keine Besserung mehr kommen würde, als sie sich zum ersten mal gewünscht hatte, dass er tot sei.

Manchmal schmiedete sie schon Pläne für die Zeit nach ihm. Ausziehen, weg vom nasskalten Hamburg. Irgendwo in den Süden. Italien oder Spanien. Nachts nochmal auf den Straßen sitzen. Frei sein und froh. Kein Gedanke an den näherkommenden Tod, dessen Bruder hier neben ihr am Tisch sitzt und Leberwurststulle isst.

Einem plötzlichem Empuls folgend spricht sie zu ihm: „Wir bekommen Besuch morgen. Maria und Carsten kommen.“ Es ist eine Lüge. Aber sie weiß, dass es ihn wütend macht, wenn Besuch kommt. Das letzte bisschen von seinem Selbst kann so unbekannte Situationen nicht ausstehen. So erklärt sie sich das zumindest. Seit einem Jahr hatten sie kaum jemanden empfangen. Wolfgang brauchte über drei Monate um sich an die Pflegekräfte zu gewöhnen. „Och nö“ sagte er nun laut. Immer wieder. Das hatte er sich behalten. Diese Phrase. Das sagte er ständig. „Och nö, heute ist schönes Wetter“. Sie hasste das fürchterlich. „Doch Wolfgang. Ich habe doch morgen Geburtstag und ich habe die beiden eingeladen.“ Sie wusste immernoch nicht recht, weshalb sie so absonderlich log. Ihr Geburtstag war noch ein paar Wochen hin. Es war wie ein Drang in ihr, eine Eskalation herbeizuführen. Sie brauchte jetzt einen Wendepunkt. Irgendwas neues. Diese tödliche Routine war genug. Sie musste jetzt provozieren. Eher würde sie sterben, als so weiterzuleben. Das dachte sie und war von sich selbst überrascht. Aber das hatte so lange in ihr gewohnt. Sie wusste es. Das war immer dagewesen. Jetzt hatte sie es im Kopf ausformuliert. Es war klar jetzt. Es ging so nicht weiter. Es ging nicht. Es war zu hoffnungslos.

„Und sie bringen auch die Enkel mit. Freust du dich schon?“ Sie empfand gefallen jetzt. Ihn zu quälen. Wie er sie quälte. „Und ein paar Freunde kommen auch dazu. Ingrid, weist du. Vom Tennis. Und Magdalena vom Yoga.“ Das Blut rauscht ihr in den Ohren. Wolfgang hatte den Rest seines Brotes fallen gelassen. Sein Kopf war rot anglaufen. Er bebte. Verrückt, dachte sie. Ob er überhaupt weiß, weshalb er so sauer ist. In diesem Moment erhob er sich ruckartig und ruckelte um den Tisch. Mit einem mal war er so dicht bei ihr, dass sie seinen fauligen Atem riechen konnte. Seine Finger griffen ihr an die Kehle. „Wolfgang“ krächzte sie nun. Plötzlich war die Todesangst da. Sie wollte doch noch nicht sterben. „Wolf…“ presste sie hervor und schlug um sich. Aber Wolfgang lies nicht locker. Seine immernoch starken Pranken hielten sie eisern fest und er presste zu. Sie wirbelte mit den Armen herum und trat mit all ihren Kräften gegen seine Schienenbeine. Er jaulte auf. Auf einmal hatte sie das Käsemesser vom Tisch in der Hand. Sie stach zu. Und wieder. Und nocheinmal. Und weiter und sein Griff lockerte sich langsam. Blut floss ihm in Strömen aus der Brust. Er torkelte zurück. Wie in Trance setzte sie nach. Bald war alles voller Blut. Und dann fiel die Angst von ihr ab wie ein Schleier und sie konnte wieder klar denken. „Wolfgang. Oh Gott. Was habe ich getan“. Sie stolpert durch den Flur zum Telefonapparat im Wohnzimmer. Mit klappernden Fingern wählt sie den Notruf.